Das Jahr, das bleiben wollte.
Man schrieb den 31. Dezember 2024
Das alte Jahr saß still und in schwachen Atemzügen über den Kontinenten. Seine zwölf Kinder lagen träge und verschlafen an seinem Herzen bis auf Dezember, das jüngste und lebendigste von allen und schon zweimal vergeblich eine Sternschnuppe fangen wollte.
Silvester, der schon den ganzen Tag vor dem Meeresspiegel stand um sich für seinen großen Auftritt fein zu machen, beobachtete das Alte Jahr schon seit geraumer Zeit.
"Warum bist du so still?" fragte er schließlich.
"Mir ist eben nicht zum Jubeln zumute an meinem letzten Tag!" antwortete das Alte Jahr betrübt. "Du hast es gut! Kannst immer wieder kommen, die Jahre abzulösen, wirst gefeiert und genießt ein bedeutendes Ansehen, während ich bald Vergangenheit sein werde."
"Dafür bleibe ich ja auch nur einen einzigen Tag", schränkte Silvester ein und schluckte ein paar Knallbonbons."
"Eben! Du bist ein so winziger Teil der Zeit, dass du deinen jährlichen Festtag glanzvoll und in deinen schillerndsten Gewändern zelebrieren kannst. Danach kannst du dich ein ganzes Jahr ausruhen. Ich hingegen hatte auch den Alltag zu bewältigen und meine Kinder im Zaum zu halten. 366 Tage habe ich mich mit Kriegen, Erderwärmung, Krisen und Katastrophen herumgeschlagen, und jetzt kommst du wie ein aufgeblasener Gockel daher und lässt dich feiern!" Das Alte Jahr sah plötzlich noch älter aus.
"Ach!" Silvester unterbrach seine Toilette und ätzte:
"Was hast du denn schon großes bewältigt? Den Hunger, die Kriege, den Raubbau an der Natur? Du schaust doch auch nur zu, wenn die Menschen unseren schönen Planeten versauen. Tja - wenn ich mich da an andere Jahre erinnere, da hat sich noch was bewegt, da war was los! Dagegen warst du stinklangweilig. Schau dich doch an, wie du aussiehst: verhärmt, abgetakelt und unattraktiv!"
"Wie wagst du es, mit mir zu sprechen?", empörte sich 2024. "Für viele Menschen war ich ein gutes Jahr!"
"…ein gutes Jahr– spottete er! Wie mir die Sterne berichtet haben, hast du Einiges auf dem Kerbholz meine Liebe: Erdbeben, Sturmfluten, Kriege und eine Wirtschaftskrise. Berühmt wirst du damit jedenfalls nicht!" Und während er seinen pinkfarbenen Smoking anzog, fügte er noch boshaft hinzu:
"Die Menschen werden froh sein, wenn du endlich fort bist."
Das Alte Jahr fühlte sich gedemütigt und blickte anklagend zum Schicksal, welches sich gleichmütig die Fingernägel lackierte. Daraufhin liefen ihm vor Zorn und Empörung dicke Tränen über die Wolken, was den Cylonesen eine regionale Überschwemmung bescherte.
"Was du wieder anrichtest!" schnaufte Silvester. "Immer das gleiche Theater mit den Alten!" Im Innersten aber bereute er seine Provokation und er versuchte, die Lage etwas zu entschärfen.
"Nun hör schon auf zu heulen, du weißt ja, was man so daherredet, wenn man gereizt wird, schließlich bin ich auch nur ein Datum. Immerhin bin ich auch gekommen, dir einen schönen Abgang zu bescheren."
Das Alte Jahr aber konnte sich nicht beruhigen:
"Du weißt doch genau, was für ein miserables Erbe ich anzutreten hatte. Die Menschen brauchen für alles einen Sündenbock und tun, als wäre ich ihr Schicksal. Dabei könnten sie selbst vieles ändern, aber die meisten beschweren sich nur. Und während sie an meinem letzten Abend Kaviar- und Lachsbrötchen in sich hineinstopfen, Champagner saufen und diese lächerlichen Knallkörper in die Luft schießen, werden sie mir die Schuld für alles geben. So einfach machen sie sich das!"
Ihre Kinder waren durch den Streit wach geworden und mischten sich ein:
"Das glaube ich nicht!" hauchte ein Frühlingskind mit heller Stimme, über mich haben sich viele Menschen gefreut.
Februar gähnte in seinem weißen Schneepyjama und spottete: "Gib nicht so an, Mai! Die paar Knospen und Blümchen erheben ein Jahr noch nicht in die Weltgeschichte."
"Lass doch den Liebesmonat in Ruhe!" ereiferte sich Juli. Nichts ist wichtiger als die Liebe!"
Plötzlich redeten alle wild durcheinander, und August wurde wegen einer boshaften Bemerkung seines Bruders April so heiß, dass selbst Dezember zu schwitzen begann. Schließlich hüllte November alles in dichten Nebel, um seine Geschwister zu beruhigen.
Eine ganze Weile noch versuchten die Kinder, sich an erfreuliche Ereignisse zu erinnern, um das Jahr zu trösten. So schnell aber, wie sie erwacht waren, ermüdeten sie wieder und versanken schließlich wieder in tiefen Schlaf. Nur Dezember spielte noch mit den niedergebrannten Adventkerzen und flüsterte:
"Du warst ein gutes Jahr - spitzenmäßig, echt cool!"
"Ist ja gut, Kleines!" seufzte das Alte Jahr gerührt." Und zu Silvester:
"Was, wenn ich einfach nicht gehe?"
Eine schrille Stimme ertönte aufgeregt aus dem auf Hochglanz polierten "Großen Wagen":
"Das könnte dir wohl so passen!
Das Neue Jahr war plötzlich aufgetaucht. Jung, tadellos geschminkt und in taktloser Frische erschien es strahlend im günstigen Mondlicht. Es flehte Silvester förmlich an:
"Bitte sag doch diesem alten Kalenderteil, es soll endlich verschwinden!"
"Halt deinen Mund und verschwinde selbst!" wies Silvester es zornig zurecht. Dein Empfang ist erst um Mitternacht!", und seufzend: "Superzicken und Mimosen! Um alles muss man sich kümmern!" Dann - etwas milder zum Alten Jahr:
"Es ist schließlich deine Bestimmung! Seit die Menschen die Zeitrechnung erfunden haben, haben alle Jahre ausnahmslos am 31. Dezember Punkt Null Uhr zu gehen, klar? Also pack deine Siebensachen und mach dir einen gemütlichen Lebensabend! Es gibt so schöne Planeten im Universum, wo du dich von deinen Strapazen erholen kannst, weit weg von den Problemen dieser Erde. Und jetzt sei bitte so gut und mach dich fertig, ich sollte schon längst in der Maske sein!"
Das Alte Jahr aber ließ nicht locker:
"Du willst mich nur abschieben auf einen dieser langweiligen Seniorentrabanten. Dabei wäre es klug, die Zeit anzuhalten und alles so zu belassen, wie es ist. Die Menschen würden ewig leben und der Zustand der Erde bliebe zumindest so, wie er jetzt noch ist." Und mit einem berechnenden Blick:"Auch du könntest für immer bleiben. Vielleicht könnten wir sogar Freunde werden!"
Silvester schüttelte energisch den Kopf und erwiderte nervös:
"Das wäre mein Ende! Die Menschen brauchen mich aber, verstehst du? Ich gebe ihnen Hoffnung. Der Stillstand der Zeit würde nicht nur die Erde erstarren lassen, sondern auch jeden Keim neuen Lebens. Gäbe es kein Morgen, wäre das Heute unerträglich. Sowas wirst du dir doch nicht wünschen, oder?"
Das Alte Jahr dachte noch eine Weile über Silvesters Worte nach und spürte, wie sich seine Energie verflüchtigte. Es hatte wohl keinen Sinn, sich der Zukunft in den Weg stellen, und so bemühte es sich, alles wegzuräumen, was dem Neuen Jahr hätte hinderlich sein können. Und schließlich buchte es einen langen Aufenthalt auf einem sonnigen Trabanten, der als absoluter Geheimtipp galt.
Kurz vor Mitternacht erschien Silvester strahlend und in prunkvoller Aufmachung, und bat 2024 mit einer tiefen Verneigung um einen Tanz. Das Alte Jahr lächelte geschmeichelt, auch wenn seine Füße schon schwer wurden, doch Silvester hielt es ganz fest in seinen Armen. Mit anerkennenden Blicken bemerkte er, dass die alte Dame im milden Mondlicht immer noch schön war. Sie bewegten sich harmonisch zu den vielfältigen Klängen und Rhythmen himmlischer Musik und die Sterne waren erstaunt, mit welch anmutiger Leichtigkeit die Beiden einen Wiener Walzer daraus zauberten.
Mit dem zwölften Glockenschlag ließen sie einander los.
© Stefanie Werger